Kurzgeschichten

3 Grabreden (cd.geier)

Der Pfarrer:

Liebe Trauergemeinde, liebe Familie Lüders,

das Himmelreich gehört den Edlen und Gerechten. Heute nehmen wir Abschied von unserem Gemeindemitglied und Familienvater Hermann Lüders. Viel zu früh hat ihn unser aller Herrgott Vater zu sich gerufen. In unserem unfassbaren Verlust bleibt uns nur, unseren Bruder als liebenden Ehemann, fürsorglichen Vater, vorbildlichen Vertreter unseres Kirchenrates und hoch geschätzten Firmenleiter und Kollegen zu verabschieden und in Erinnerung zu behalten.

Hermann Lüders und ich, wir kannten uns persönlich. Stets war es mir eine Freude und Ehre, als Pfarrer dieser Gemeinde Gast seines Hauses zu sein. Wie sehr habe ich die Stunden im Kreise seiner Familie genossen und muss sie fortan vermissen. Das gute Essen von Frau Gabi Lüders, die Heiterkeit der beiden Kinder Thomas und Heike, so freundlich und wohl erzogen. Stets und stillschweigend habe ich das Ideal dieses Familienlebens bewundert. Diese Harmonie zwischen Ehepartnern, dieses traute Miteinander in der Familie, diese tiefe Verbundenheit – in dieser Größe, kann ich ehrlichen Herzens sagen, ist es eine Seltenheit. Und natürlich werde ich die anregenden Gespräche bei einem guten Tropfen aus seinem Weinkeller vermissen. Stets war Hermann Lüders bedacht, die Zukunft unserer Gemeinde mit seinen Visionen auf den besten Weg zu bringen. Er hat so Vieles erreicht und hatte noch so Vieles vor.

17 Jahre lang war Herrmann Lüders Mitglied unseres Kirchenrates. Die letzten 5 Jahre war er unser Vorsitzender. Unsere Gemeinde schuldet ihm unermesslichen Dank. Mit dem Bau unseres Gemeindezentrums hat er sich ein Denkmal für die Ewigkeit gesetzt. Von der Planung bis zur Fertigstellung war er die treibende Kraft, unermüdlich im Einsatz. Alle Hindernisse – und die gab es reichlich, hat er mit seinem Durchsetzungsvermögen aus dem Weg geräumt. Wir können froh sein, Hermann Lüders auf unserer Seite gehabt zu haben. Liebe Gabi Lüders – mit Ihrem Einverständnis- der Gemeinderat hat beschlossen, unser Gemeindezentrum in das Hermann Lüders-Begegnungszentrum umzubenennen. Wir erachten dies als würdige Ehrerbietung an Ihren Mann und wir hoffen als symbolische Entschädigung für das, was Ihr Familienleben durch das große Engagement Ihres Mannes für das Gemeinwohl entbehren musste.

Hermann Lüders war in seiner Gottesfürchtigkeit mit einem großen Herz und ungetrübter Nächstenliebe gesegnet. Er war die Redlichkeit in Person. Aber die Wege des Herrn sind unergründlich. Nur Gott weiß, was Herrmann Lüders Mörder zu solch grausamer Tat getrieben haben könnte. War seine plötzliche Erkrankung ein Schock für uns Alle und stürzte uns die Gewissheit, dass keine Hoffnung mehr gegeben war in tiefste Verzweiflung, so war die Erkenntnis, dass sein Sterben von irgend jemandem gewollt und herbeigeführt war, der Gipfel der Unglaublichkeit. Uns bleibt nur der Glaube, dass Gott in seiner Gerechtigkeit den Mörder zu seiner gerechten Strafe führen wird und bleibt die Gewissheit, dass Hermann Lüders im Kreise der himmlischen Heerscharen ewigen und paradiesischen Frieden findet. Möge ihm das ewige Licht leuchten.

Die Ehefrau:

Mein Gemahl,

es war nie meine Sache, Reden zu halten. Das hast du immer so brillant gekonnt. Aber die Kinder haben mich um diese Abschiedsworte gebeten. Wie könnte ich ihnen dieses abschlagen?

Hermann, 17 Jahre waren wir verheiratet. Wir haben uns Treue geschworen, bis dass der Tod uns scheidet. Jetzt hat der Tod dieses Versprechen besiegelt. Im Traum hätten wir nicht gedacht, dass diese leicht gesagten Worte jemals so schwer wiegen würden.

Hermann, du warst mir ein so guter Mann, wie du den Kindern ein guter Vater warst. Du hast für uns gesorgt und hast uns das große Haus gebaut. Es ist kein Geheimnis, dass du aus schwierigen Verhältnissen stammst und es einmal besser haben wolltest, als in deiner Kindheit. Das hast du geschafft. Du hast eine Firma aufgebaut und jetzt auch noch das Gemeindehaus nach deinen Vorstellungen durchgesetzt. Alle, die dich kannten haben dich für deine Kraft und Energie bewundert. Es war immer etwas Besonderes an deiner Seite stehen zu dürfen und dies zu spüren.

Ich denke, es waren deine festen Regeln, die dich zu dem leuchtenden Vorbild haben werden lassen, das du immer sein wolltest. Es waren deine Regeln und deine Gottesfurcht, die uns sicheren Zusammenhalt gegeben haben, deine Regeln, die unsere Kinder so wohlgeraten haben werden lassen. Hier war immer auf dich Verlass. Nichts hat dich so aufgebracht, wie Chaos und Unberechenbarkeit. „Wo kommen wir hin, wenn jeder macht, was er will!“, war dein Leitspruch. Das Leben sollte eine weiße Weste haben. Und unser Leben hat immer eine blütenreine Weste gehabt.

Hermann, die letzten Tage waren so schwer mit deinen Schmerzen und Qualen. Bis zum Schluss hast du gekämpft, wolltest es nicht wahr haben, dass dir nur noch wenige Wochen bleiben. Glaube mir, wir haben mit dir gelitten. Die Kinder können es nicht verstehen, dass der Tod eine Erlösung sein kann. Noch weniger können es die Kinder verstehen, dass die Polizei gekommen ist und was von Vergiftung erzählt hat. Das ist alles so unfassbar.

Jetzt bleibt uns nur, Abschied von dir zu nehmen und das zu tun, was du immer getan hast: mit der Kraft, die in uns ruht in die Zukunft zu gehen.

Herrmann, ruhe in Frieden!

Ach, und Herr Pfarrer: vielen Dank für die Ehre der Umbenennung des Gemeindezentrums. Wenn Ihnen danach ist, können Sie dies gerne machen. Bitte nehmen Sie es mir aber nicht übel, wenn mir diese Ehre  zu groß erscheint.

Der Mitarbeiter:

Sehr geehrte Trauergemeinde, liebe Gabi Lüders, liebe Heike, lieber Thomas

mir als Betriebsrat der „Hermann Lüders GmbH“ obliegt das traurige und schwere Amt, im Namen der gesamten Belegschaft Abschied von unserem Chef zu nehmen. Ich werde es kurz halten. Hermann Lüders war ein Chef, wie man ihn sich wünscht.

Er hat die Firma gegründet, sie aufgebaut, sie wachsen lassen und durch alle Krisen geführt. Eine Firma, die allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen zur beruflichen Heimat und mehr noch als das, zu einer Familie geworden ist. Dies ist das Werk und hoffentlich Vermächtnis alleine von Hermann Lüders. In Disziplin und Fleiß war er uns immer ein Vorbild.

Aber Hermann Lüders war auch Mensch und nicht allen Gewalten gewachsen. Wir alle schmunzeln immer noch über den letzten Betriebswandertag, als Hermann Lüders mit seiner Sekretärin Brombeeren für das Picknick organisieren wollte und beide voller Kletten in den zersausten Haaren zurückkehrten. So eine Unordentlichkeit war nichts für unseren Chef. Aber es machte ihn zu einem von uns!

Hermann Lüders, wir verabschieden uns von Ihnen in tiefster Trauer und in der Bestürzung, dass es eine Gewalttat war, die Sie dieser Welt entrissen hat. Wir hoffen, dass der Mörder bald gefasst wird und seine Strafe bekommt.

Liebe Gabi Lüders, liebe Heike, lieber Thomas: mit Ihrem Mann und eurem Vater verliert die Welt ein Vorbild.

.

.

Kälte (cd.geier)

Nimm es als symbolischen Akt: ich decke dich zu. Hier ist meine Decke. Spürst du das weiche Kratzen auf deiner Haut? Sie ist aus echter Wolle. Spürst du die Wärme? Spürst du überhaupt noch etwas? Schau mich nicht so vorwurfsvoll an. Das Ganze ist nicht meine Schuld.

Ich finde, ein herrlicher Tag geht zu Ende. Die Luft so kalt und klar, dass sie die Lungen kitzelt. Prickelndes Atmen. Der würzige Duft des Winterwaldes. Der Reif auf den Bäumen. Der festgefrorene Boden. Nein, die Dämmerung mit ihrem diffusen Licht trübt mein Glück nicht. Ich freue mich auf die Dunkelheit. Morgen ist ein neuer Tag. Wieder kalt und klar. 

Danke, dass du heute mit mir hier herausgekommen bist. Ich weiß es zu schätzen. Ich weiß, wie sehr du die Kälte hasst, wie zuwider dir ein winterlicher Spaziergang in die Tiefe des Waldes ist. Du liebst den Sommer, das heiße Licht. Ein kühler Drink am Pool im knappen Bikini. Dein straffer, gebräunter Körper als Objekt der Bewunderung und Begierde männlicher Geilheit. Deine prominenten Brüste. Dein kühler, abweisender Blick, der nur noch mehr anstacheln soll. Mich hat er heiß gemacht. Ich wollte dich. Sofort. Ich wollte der Riss in deiner frostigen Fassade sein, wollte den schlummernden Vulkan in dir zum Ausbruch bringen. Alles habe ich dafür gegeben. Du hast alles genommen. Ich weiß, dass es mein Geld, mein Status war, wofür du dich entschieden hast. Damit kann ich leben. Ich kann auch damit leben, dass du dir selbst stets am wichtigsten gewesen bist. Nur eine Portion Egoismus hat mich zu dem gebracht, was ich erreicht habe. Nein, das kann ich dir nicht übel nehmen. Auch nehme ich dir die Verletzungen durch deine Unverhohlenheit nicht Übel.

Du zitterst ja! Was mich immer noch erzittern lässt, ist die Kälte des „Ja“-Wortes vor der Standesbeamtin. Was mich immer noch erzittern lässt, ist die beständige Kälte des Neins auf die Fragen, ob du mich liebst. Was mich immer noch erzittern lässt, ist die Kälte des „Na und“, nachdem du letzte Woche meinen wichtigsten Kunden erst verführt und dann öffentlich lächerlich gemacht hast.

Schaue mich nicht so flehend an! Das kommt zu spät. Ich habe dir meine Liebe geschenkt, geduldig, leidend. Ich habe dir mein Herz geschenkt. Einzig dir sollte es gehören. Ich habe dir Geborgenheit geschenkt. Du hast sie genommen, wenn du Geborgenheit gebraucht hast. Ich habe dir Vertrauen geschenkt. Du konntest mir vertrauen. Ich habe dir mein Leben geschenkt. Ich habe nur eines. Ich habe dir die Wärme angeboten, die Liebende in einer kalten, entmenschlichten Zeit verbinden sollte. Du hast mir nur angeboten, dich zu bewundern, dich zu begehren. Du hast mich heiß gemacht, um mir deine kalte Schulter zu zeigen. Du hast mir Verachtung geschenkt.

Was sagst du? Du willst dich ändern? Ich verstehe dich kaum. Du phantasierst. Zu lange habe ich phantasiert. Meine Phantasien von Glück, von Kindern, von Familie, vom gemeinsamen Altwerden, vom Zusammenhalten in guten, wie in schlechten Zeiten. Ich hatte mit dir nur schlechte Zeiten, eine Eiszeit. Du kannst dich nicht ändern. Zu lange wollte ich diese Realität nicht wahrnehmen. Schön, dass du mich jetzt noch wahrnimmst.

Dein Zittern lässt schon nach. Du wirst schwächer. Du kannst dich nicht mehr bewegen. Dein Gehirn funktioniert noch. Vielleicht hättest du bemerkt, dass mit dem Tee etwas nicht stimmt, wenn du nicht so versessen auf den Rum gewesen wärst. „Vergiss Tee mit Rum, mach mir Rum mit Tee. Vielleicht überlebe ich diesen Tag, vielleicht überlebe ich dich dann irgendwie“, hast du mich heute morgen angeblafft, als ich dich um diesen Spaziergang bat. Nein, du wirst diesen Tag nicht überleben, du wirst mich nicht überleben. Tetrodotoxin, Kugelfischgift. Ein paar wohldosierte Tropfen haben dich gelähmt. Als du es bemerkt hast, war es zu spät. Die Beine sind dir weggesackt. Dein Gezeter hättest du dir sparen können. Hier draußen hört dich niemand. Ich habe dich ausgezogen und dich auf den Boden gelegt. Wie warm mir dabei noch einmal wurde. Du solltest die eisige Kälte am ganzen Leib spüren, mit der du mich überzogen hast. Du musst erfrieren, bevor ich erfroren wäre.

Deine Atmung setzt aus. Jetzt habe ich dir auch alles gesagt. Ich nehme dir die Decke wieder weg. Ich möchte dich ein letztes mal bewundern. Wie schön du bist auf diesem fein strukturierten Waldteppich: deine blasse Haut in der Dämmerung, deine straffen Proportionen, dein ebenmäßiges Gesicht, deine Brüste, deine gepflegten Hände – ich werde sie in warmer Erinnerung behalten.

Hörst du mich noch? Ich bleibe noch bei dir, bis es dunkel ist. Mein Tee und meine Wolldecke werden mir mehr Wärme spenden, als du es in unseren Jahren getan hast. Irgendjemand wird dich finden in deiner nackten Schönheit mit kaltem Blick. Er wird deinen Abschiedsbrief lesen und sich warmherzig denken, welcher Verlust dieser kalten Welt beschieden ist.

Nie hat mich eine Frostperiode so erwärmt.

.

.

Die Last des Wissens (cd.geier)

Sie weiß es. Sie weiß, dass sie heute Nacht sterben muss. Wie immer schüttelt sie leicht den Kopf. Wie immer senkt sie mit traurigen Augen ihren Blick, hinab auf den Bürgersteig, als ob sie dort einen Platz suche, ihr Wissen abzuladen, sich dieser Bürde zu entledigen. Als ob Unwissenheit auf dem Boden liege. Ihr Haar ist grau geworden. Sie hat es zu einem Dutt verknotet, was ihrem gütigen Gesicht eine Spur von Strenge verleiht. Das Blumenhemd, dunkelgrün mit großgelappten gelben und roten Blütenblättern spottet dem Tag und dem, was ihr die Nacht bringen wird. Warum trägt sie nicht Schwarz?

Wie jeden Tag um diese Zeit lehnt sie am Fenster im ersten Stock des Mietshauses und saugt das Leben in der kleinen Straße auf. Wird sie begrüßt, grüßt sie zurück. Winkt ihr jemand zu, winkt sie zurück. Ihre Freude an dieser Teilhabe ist so spürbar und natürlich, wie die Jahreszeiten, denen sie mit ihrem täglichen Ritual trotzt. Kaum einer spricht sie an. Jeder weiß, dass sie keine Unterhaltung sucht und sich auf knappe, freundliche Antworten beschränken wird. Niemand aus der Straße möchte sie in Verlegenheit bringen. Sie scheint in einer Gedankenwelt zurückgezogen zu sein, die sie einmal täglich mit dem Öffnen ihres Fensters durchlüftet und sich der Menschen außerhalb ihrer Wände zu versichern. Nie habe ich gesehen, dass sie ihre Wohnung verlassen hätte. Nie habe ich sie in unserem kleinen Laden an der Ecke getroffen. Ich weiß nicht, wie sie heißt. Ich weiß nur, dass das Zimmer zur Straße ihr Wohnzimmer ist, mit einer hell gemusterten Tapete und einer großen Pendelstanduhr im Blickfeld aus meinem Fenster, genau gegenüber in der kleinen Straße. Ich weiß, dass sie alles von mir weiß. Ich weiß nicht, wie sie das macht, woher diese Gabe kommt.

Sie wusste es vor 20 Jahren. Sie wusste, dass ich die Katze der Hennings gequält hatte. Im Hinterhof der Nummer 8 hatte ich sie mit einem Wollknäuel angelockt, ihr eine kleine Kiste übergestülpt und ihr eine Schnur mit Blechdosen an den herausstehenden Schwanz gebunden. Wie sie sich ärgerte, vergeblich versuchte, dieses scheppernde Etwas loszuwerden. Meine Freude an diesem harmlosen Jungenstreich verflog, als ich zum Abendbrot nach Hause ging. Ich spürte einen durchdringenden Blick und entdeckte die Frau an ihrem Fenster. Mit traurigem Blick schüttelte sie den Kopf. Ich fühlte mich ertappt und schämte mich. Vier Jahre später bekam ich erstmals Angst. Ich hatte in unserem kleinen Laden an der Ecke eine Flasche Schnaps gestohlen, die ich für meinen Vater hätte kaufen sollen. Stolz auf meine Geschäftstüchtigkeit, malte ich mir auf dem Heimweg aus, was ich mit dem gewonnen Geld machen würde, als ich an unserer Haustüre zum zweiten mal diesen durchdringenden Blick spürte. Gegenüber, im ersten Stock, lehnte sie am Fenster, schaute mir kurz in die Augen und senkte ihren traurigen Blick auf den Bürgersteig. Sie wusste es. Ich zitterte am ganzen Leib, erbrach mich in den Rinnstein und traute mich in diesem Zustand nicht, die Flasche zurückzutragen. Ich musste die Lüge durchziehen. Die folgenden Tage war ich krank und blieb zu Hause. Ich durchlebte sie in Panik. Zu ihren Zeiten am Fenster lugte ich durch die Gardine, um sie zu beobachten. Sie wusste es. Sie blickte zu mir herüber, schüttelte kaum merklich den Kopf und blickt traurig hinab auf den Bürgersteig. Ob sie mich verraten würde? Nein, sie tat es nicht, es blieb unser Geheimnis.

Im Laufe der Jahre sammelten sich die Geheimnisse zwischen uns und wogen von Ereignis zu Ereignis immer schwerer: Das gestohlene Fahrrad, der von unserer Clique verprügelte Junge, die Brandstiftung im Holzschuppen, meine Einbrüche – sie wusste es immer. Ich weiß es von ihrem leichten Kopfschütteln und ihrem traurigen Blick auf den Bürgersteig. Nie hat sie etwas gesagt. Nie hat sie mich verraten. Sie trug die Last des Wissens.

Sie weiß von der Fahrerflucht. Erstmals vergoss sie Tränen, als sie mich mit ihrem kurzen Kopfschütteln und gefürchteten Blick bedachte. Sie weiß, dass es meine Schuld ist, dass der alte Mann nicht mehr lebt. Sie weiß, dass ich Alkohol im Blut hatte, als ich ihn im Nebel auf der Landstraße zu spät gesehen hatte. Sie wusste vor mir, dass er tot war. Es waren ihre gestrigen Tränen, als sich unsere Blicke wieder einmal trafen. Es war die sichtbare Verzweiflung in ihrer Traurigkeit, die mich Schlimmstes befürchten ließen. Ich erfuhr es erst heute aus der Zeitung. Der alte Mann war tot, verblutet. Nach dem flüchtigen Fahrer werde gesucht. Ich bin in Panik.

Hinter meiner Gardine stehend verwerfe ich die letzten Zweifel an dem, was getan werden muss. Sie alleine könnte mich verraten, könnte mich ins Gefängnis bringen. Unbeobachtet und lautlos werde ich heute Nacht in ihre Wohnung eindringen. Lautlos werde ich sie mit ihrem Kissen ersticken. Sie ist alt. Wenn sie gefunden wird, wird es wie ein friedlicher, natürlicher Tod aussehen. Es gibt keine Verbindung zwischen uns, außer unserem Wissen um das Wissen. Es ist ein guter Plan. Die kleine Straße wird sie vermissen.

Sie hebt ihren Blick vom Bürgersteig und schaut mir durch die Gardinen ein letztes mal in die Augen. In ihrem fröhlichen Blumenhemd wirkt sie gefasst. Sie bedenkt mich mit einem Achselzucken und schließt ihr Fenster.

.

.

Trauer (cd.geier)

Oh süße Trauer, lass mich nicht los! Du allein lässt mich die Unbill dieser Welt vergessen. Das Jetzt in seiner Einsamkeit, das Morgen in seiner Hoffnungslosigkeit verschwimmen im Glück des Vergangenen. Hunger und Durst sind bedeutungslos. Die Erinnerung ist mir Nahrung. Bitter im Geschmack, eines schweren Weines gleich, bist du Labe für Leib und Seele, lässt mich in Schlaf sinken, durchzogen von Traumfetzen, die wie Herbstlaub nicht zu greifen sind.

Oh süße Trauer! Du lässt meine Züge erweichen. Die eiserne Fassade des Wackeren, die ich in der Welt der Glücklichen und Geborgenen zur Schau zu stellen weiß, blättert in der Zurückgezogenheit mit dir ab, wie ein unnützer, alter Lack. Nur du zauberst noch ein Lächeln in mein verhärtetes Gesicht, lässt meine Züge erweichen. Manchmal erwirkst du gar eine Träne. Gierig lecke ich sie auf.

Oh meine Elena, du Quell meiner Trauer! Du bist mir genommen worden, die Trauer um dich soll mir Zeit meiner verbleibenden Tage erhalten bleiben. Dein Bild ist in meinem Herzen fest verankert: deine schlanke Gestalt, dein blondes, schulterlanges glattes Haar, dein weiches Gesicht mit den sinnlich geschwungenen Lippen und hohen Wangenknochen und deinen dunklen, blauen Augen mit der Tiefe unseres Sees. Wie vermisse ich dich. Wir waren für einander bestimmt wie die Blüten für die Bienen. Wie ein Waldhonig war unsere Liebe von makelloser Süße und Würze. Unser Glück hatte seinen festen Platz in unserem kleinen Häuschen im dunklen Tann an unserem See. Die Welt der Glücklichen und Geborgenen jenseits unseres Hains belachten wir als billige, inszenierte Komödie. Uns allein oblag paradiesisches Sein im Garten Eden der Abgeschiedenheit unseres kleinen Häuschens an unserem See mit seinen nicht zu erklimmenden Ufern. Glück war es, uns im Flackern des Kaminfeuers zu lieben, eng umschlungen in grenzenlosem Begehren. Glück war es, uns in der Mitte des Sees in unserem kleinen Ruderboot zu lieben, getragen auf den sanften Wellen des dunklen Wassers. Glück war es, mit dir auf unserem hohen Bootssteg die Jahreszeiten zu durchleben. Mit dem Sonnenuntergang jeden Tag zu verabschieden und jede Nacht zu begrüßen. Glück war es, dich kopfüber ins kalte Nass springen zu sehen, dich bei deinen geschmeidigen Zügen durch das Wasser zu bewundern, dir zurück ins Boot zu helfen oder dich auf dem Steg wärmend zu empfangen. War es Gottes Neid, dieses Glück zu zerbrechen? War es Gottes Hand, die Leiter zum Bootssteg zu zerbrechen, dir die Rückkehr aus kühlem Bade in meine Arme zu verwehren? War es des Teufels Häme, dass ich hilflos schreiend dein Ertrinken erleben musste? In meiner Erinnerung währte es Stunden, in denen du dich vergeblich mühtest, die glitschigen Holzpfähle des Steges empor zu klettern oder das steile Felsenufer zu erklimmen und wir immer wieder mit wachsender Verzweiflung versuchten, uns an den Händen zu erreichen. Du dich reckend aus dem Wasser, ich mich auf dem Steg liegend zu dir hinab streckend. Eine Handbreit Leere schaffte es, uns zu trennen. Auch du hast meinen Namen geschrieen, wie ich deinen, hast um Hilfe gefleht. Und dein Rufen wurde immer leiser, deine Arme wurden immer schwächer, bis du unter mir, kraftlos den moosigen Holzpfahl mit einem Arm umgreifend, den anderen zu mir erhoben untergingst, gurgelnd und zuckend dein Leben aushauchtest, die Augen in vorwurfsvoller Liebe weit aufgerissen. Dann schwebtest du nur noch als Schatten wahrnehmbar schwerelos auf der Stelle unter dem Steg. So nah am Ufer, doch für immer von mir entfernt. Mir blieb nur noch, am nächsten Tag die Leiter zu reparieren, deinen aufgedunsenen Leichnam zu bergen und im Wald hinter unserem kleinen Häuschen zu begraben. Oh meine Elena, nur die Trauer um dich ist mir in der Schuld meiner Hilflosigkeit geblieben. Nie soll sie mich verlassen. In ihrer Süße soll sie ewige Verbundenheit mit dir und in ihrer Schwere ewige Sühne für die Schuld meiner Hilflosigkeit gewähren.

Oh meine Elena, und wieder drohte meine Trauer während der letzten Tagen zu verblassen, einer verdorbenen Leere und Vergessenheit zu weichen. Und wieder musste ich mich hinter stählerner Fassade des Wackeren in die Welt der Glücklichen und Geborgenen begeben, um auf erprobte Weise meine Trauer am Leben zu erhalten. Jetzt wird alles wieder richtig!

Oh, meine Elena, wenn ich im warmen Flackern des Kaminfeuers die Augen schließe, glühe ich in der Lust der Vereinigung. Ich liege auf dir, deine festen Schenkel umschlingen mich , halten mich tief in dir. Ich spüre die Weichheit deiner Brüste unter mir. Dein blondes Haar fällt sanft auf das Kissen. Danach wiegst du mich sanft und flüsterst mir Koseworte zu. Später werden wir uns nochmals in unserem kleinen Ruderboot in der Mitte unseres Sees lieben. Bis dahin wirst du mir erzählen, wie glücklich du bist, mich getroffen zu habe, wie glücklich du bist, hier zu sein in der Abgeschiedenheit unseres kleinen Häuschens im dunklen Tann an unserem See. Und du wirst mir nochmals erzählen müssen, wie du deinen Mann verloren hast, wie die Trauer dich lange gefangen hielt und du dir nicht vorstellen konntest, diese Schwere dieses Gefühls jemals hinter dir lassen zu können. Und du wirst mir erklären, dass es niemanden gibt, der dich vermisst, falls du einmal nicht mehr sein wirst.

Oh, meine Elena, und dann werden wir zum Sonnenuntergang auf dem Bootssteg sitzen. Eine Vorfreude wird mich umfluten. Ich werde sie in den See stoßen. Ich werde die Minuten zu Stunden werden lassen, in denen sie versuchen wird, den Steg zu erklimmen. Sie wird in Panik verfallen, wenn ich die kleine Leiter aus dem Wasser ziehe. Sie wird versuchen, die glitschigen Holzpfähle empor zu klettern. Sie wird keinen Halt an den steilen Uferfelsen finden. Sie wird um Hilfe schreien, wird meinen Namen rufen. Sie wird die Arme zu mir empor recken. Ich werde mich zu ihr hinab strecken und nur eine Handbreite Leere wird uns trennen. Ich werde erleben, wie sie immer schwächer werden wird. Gurgelnd und zuckend wird sie untergehen. Und dann wird sie nur noch als Schatten wahrnehmbar unter der Wasseroberfläche schweben. Und immerzu werde ich deinen Namen rufen: „Elena!“.

Morgen werde ich ihren aufgedunsenen Leichnam bergen und im Wald hinter unserem Häuschen begraben. Dann werde ich mich wieder der vollen Süße der Trauer hingeben können.

.

.

Der Klang des Cellos (cd.geier)

Liebe, Seele, Gott? Über diese Irrungen konnte er nur Lachen. Er war Wissenschaftler. Liebe ließ er als die Fehlinterpretation von biochemischen Prozessen noch gelten, Transzendenz war Humbug. Wie konnte sich die Menschheit nur derartigen Illusionen hingeben und unterwerfen? Er hatte es nie verstanden. Als junger Mann hatte er seinen natürlichen sexuellen Drang zur Fortpflanzung an Nutten abgelassen. Manch eine war vergnüglich gewesen, im Allgemeinen war es ein notwendiges Geschäft. Eine Beziehung war für ihn nie in Frage gekommen. Zugegeben, Laura hatte irgend etwas in ihm bewegt. Aber nach ein paar Gesprächen, in denen er in seiner rationalistischen Art die Optionen einer gemeinsamen Zukunft skizzierte, hatte sie sich von ihm abgewandt und, wie alle anderen, als Spinner abgetan. Als Spinner galt er während des Medizinstudiums spätestens ab dem Präparierkurs im zweiten Semester, den er mit einer Non-Chalance und Gefühllosigkeit als Primus absolvierte. Den Ruf eines Eigenbrödlers hatte er nun schon viele Jahre als Gerichtsmediziner. Es störte ihn kein bisschen. Er hielt das Leben außerhalb seiner kalten Arbeitsräume in der Turmstraße für sinnlos. Eine Seele hatte er weder in den Schädeln, noch gut versteckt irgendwo zwischen den Gedärmen gefunden. Er hatte nicht wirklich gesucht, hatte sich mehr einen Spaß mit der absurden These der Seelenexistenz gemacht. Das menschliche Leben hatte für ihn kein einziges Geheimnis mehr. Es war nicht mehr als die Funktion von Elementen, von der nach dem Tod nur noch kalter Zerfall und Verwesungsgestank blieb.

Und doch gab es etwas, was ihm suspekt war, was er sich nicht erklären konnte. Es war der Klang eines Cellos. Dieser warme, schwingende Klang. Er durchdrang seinen Körper, brachte jede Körperzelle, jeden Knochen, sogar die leblosen Haare in Bewegung. Er musste sich eingestehen, dass auch er nicht gefeit war vor Gefühlen wie euphorischer Freude und abgründiger Traurigkeit. Allein ein Cello konnte diese Prozesse in Gang setzen. Seine einzige Freizeitbeschäftigung bestand darin, eine Wahl aus seiner Schallplattensammlung mit Cellosonaten zu treffen, sich bei einem Glas Rotwein in seinen schwarzen, schweren Ledersessel fallen zu lasen, die Augen zu schließen, sich der Musik hinzugeben und sich selber zu erforschen. Welcher Bereich seines Körpers  wurde angeregt, welches Bild hinter seinen geschlossenen Lidern hervorgerufen? Manchmal, insbesondere bei Tiefruckwetterlagen, ging es soweit, dass er in einen tranceartigen Zustand verfiel. Einzig das Knistern der abgenutzten Schallplatten hielt ihn davon ab völlig hinweg zu gleiten. Wie gerne wäre er damals über diese Grenze gegangen.

Dann, vor fast zwei Jahren zog der junge Student in die kleine Wohnung über ihm. Ein Cellist. Er stellte sich ihm am Tag des Einzugs als Linus van Heelen vor, Student der Philosophie, und bat in aller Höflichkeit um die Erlaubnis, sein Instrument üben zu dürfen. Natürlich dürfe er das, es würde in keiner Weise stören, räumte er dem jungen Mann väterlich ein, zumal er sowieso kaum zu Hause sei. Und der Cellist beherrschte sein Instrument. Beethoven, Brahms, Lanzetti, er konnte sie alle spielen. Es kam nicht von ungefähr. Er übte jeden Tag im Zimmer direkt über seinem Wohnzimmer. Und auf einmal war es mehr als nur das Hören, das Aufnehmen der Frequenzen durch die Gehörgänge. Seine Bleibe erbebte unter den Vibrationen, die durch die Holzdielen auf seine Wände übertragen wurden. Die Musik wurde zum Raum, der Raum wurde Musik. Wenn das Cello über ihm gestrichen oder gezupft wurde, tauchte er ein in ein Bad von schmeichelnden Klängen. Seine Welt bekam eine neue Dimension. Was er nie für möglich gehalten hatte, dass er sich nach der Enge seiner kleinen Wohnung sehnen würde, diese einmal der geräumigen Kühle seiner Arbeitsstätte vorziehen würde, war wahr geworden. Er lebte von nun an von Sonntag zu Sonntag. Jeden Sonntag Vormittag spielte Linus über zwei Stunden sein Repertoire und brachte ihn aus der Welt. Er saß in seinem Sessel, schloss die Augen, ließ sich von der Musik durchströmen und durchbrach die Grenze. Für zwei Stunden konnte er seinen Verstand hinter sich lassen und schwerelos in einem Raum aus Licht und Farben schweben. Er war glücklich.

Zu Weihnachten stellte er dem begnadeten Streicher eine Flasche exquisiten französischen Rotwein vor die Türe mit einer Karte der Anerkennung für die hohe Kunst. Linus bedankte sich umgehend anständig für das Geschenk. Ansonsten verliefen die wenigen Begegnungen im Treppenhaus förmlich, reduziert auf höflichen Gruß.

Das Glück sollte nicht anhalten. Vor drei Monaten nahm es zunächst ein schleichendes, dann ein vollständiges Ende. Es begann mit einer Frauenstimme am Freitag Nachmittag. Linus hatte Damenbesuch. Sie scherzten, lachten und er konnte im hellhörigen Haus fast jedes Wort verstehen. Wie sie ihn umgarnte, wie sie ihn bat, ihm etwas auf dem Cello vorzuspielen, wie er eine kleine Etitüde anstimmte, wie sie ihn lobte, wie sie ihn bat, das Cello zur Seite zu stellen und zu ihr zu kommen. Das Stöhnen, das kurz darauf einsetzte und in einem Crescendo zum Lustgeschrei wurde. Er musste sich die Ohren zuhalten, bis vorübergehende Stille eintrat. Eine Stunde später wiederholte sich die Paarung, worauf er mit einem Zittern am ganzen Körper reagierte. Dann kam der Sonntag Vormittag. Statt sich auf seine ersehnte Reise ins Land der Phantasie zu begeben, musste er das Treiben des jungen Paares ertragen. In die Schreie auf ihrem Höhepunkt fiel er ein mit Schreien der Panik. Er begann zu hassen.

In den folgenden Wochen übte Linus zwar noch gelegentlich, doch die Wochenenden gehörten dem Liebesspiel. Der Wahnsinn wuchs. Dann setzte das Cellospiel ganz aus und die einzigen Frequenzen aus der Wohnung über ihm war das Geturtel des jungen Paares und Verlautbarung des penetranten, nicht enden wollenden Sexes.

Er konnte nicht mehr schlafen, nicht mehr denken, nicht mehr arbeiten. Er musste dem ein Ende setzen. Die Mittel standen ihm allemal zur Verfügung. Er besorgte sich etwas Äther, zwei Giftspritzen, einen Dietrich, einen Knollenblätterpilz und eine Schale Champignons. Er bereitete eine gedünstete Pilzpfanne vor, ertrug, am ganzen Körper bebend, ein letztes Mal das nächtliche Treiben des Paares und wartete eine Stunde in häuslicher Stille, bis die beiden mit Sicherheit eingeschlafen waren. Dann stieg er im dunklen Treppenhaus das Stockwerk empor und öffnete die Wohnungstür. Er schlich sich, immer noch am ganzen Leib zitternd, in das Zimmer der Beiden, hielt kurz inne, um im fahlen Licht die verschlungenen, nackten Körper der Schlafenden auszumachen und versicherte sich des ruhigen, tiefen Atmens. Er nahm alle Kraft und Konzentration zusammen und presste beiden fast zeitgleich einen mit Äther getränkten Wattebausch auf Mund und Nase. Ihr Erwachen mit Schreck geweiteten Augen und ihre Gegenwehr waren von kurzer Dauer. Die Wut gab ihm die nötige Kraft. Nachdem sie erschlafft waren, setze er die tödlichen Injektionen. Danach musste er nur noch ein Pilzessen arrangieren.

Natürlich wurde er mit dem Fall und der Obduktion betraut. Dass er sich des Auftrags ob des Ablebens seines Nachbarn mit gewohnter Sachlichkeit und ohne Anzeichen von Emotionen oder Trauer annahm, war für niemanden verwunderlich oder verdächtig. Der Eigenbrödler verstand sein Metier.

Er nahm sich vor, seine alte Schallplattensammlung durch eine neue zu ersetzen und sich die beste Musikanlage der Welt zu kaufen. Er wollte so schnell wie möglich wieder auf die Reise zum Klang des Cellos gehen können.

.

.

Der Baum der Liebe (cd.geier)

„Schau mir in die Augen, Kleines!“ – wie sie diesen Satz liebte. Sie war noch jung gewesen. Lange nicht mehr so jung, an den Weihnachtsmann, doch noch so jung, an die große Liebe zu glauben. Daniel war ihr erster Freund. Wie anmutig er war mit seinen blonden Haaren und seinen himmelblauen Augen. Jedes Jahr zu Weihnachten schworen sie sich Treue auf Ewigkeit und machten die Feiertage zu einem Fest der Liebe. Sie liebten sich im Schlafzimmer, in der Küche und vor dem Weihnachtsbaum. Und wie er sie mit seinen Blicken verschlungen hatte – noch heute spürt sie das Begehren in seiner erregten Iris und seinen geweiteten Pupillen. Doch plötzlich war alles vorbei. Zwei Tage vor Weihnachten offenbarte er ihr, sein Herz einer anderen geschenkt zu haben. Äußerlich gefasst, bat sie ihn um eine letzte Nacht und ein letztes mal darum, mit ihr den Weihnachtsbaum zu schmücken. Dass sein Herz einer anderen gehören werde, mochte sie ertragen, seine blauen Augen wollte sie nicht missen. Seit jenem Jahr zierten zu jedem Weihnachtsfest zwei neue Kugeln ihren Baum.

Heute ist der 22. Dezember. Wie immer an diesem Tag möchte sie sich in einer leidenschaftlichen Liebesnacht verlieren, ihre Erinnerungen heraufbeschwören. Sie hat sich für eine Musikbar in Friedrichshain entschieden. Ein Konzert von Dornroses Rache mit Liedern um Liebe, Mord und Leidenschaft klang ungewöhnlich und vielversprechend. Rechtzeitig war sie hier, um das Feld zu sondieren. Noch bevor das Trio die Bühne betritt, hat sie Blickkontakt mit einem hübschen Mann aufgenommen, der alleine an einem der Tische sitzt und versonnen an seinem Bier nippt. Mit einem freundlichen Lächeln fragt sie ihn, ob sie sich zu ihm setzen dürfe. Er nickt und bietet ihr mit neugierigem Augenaufschlag den Platz an seiner Seite an. Wie bezaubernd: er hat unterschiedliche Augen. Das eine Auge ist blau, das andere von einem dunklen Grün. Oh Gott, wie sie ihn besitzen möchte! Schnell nimmt sie ihm die offensichtliche Nervosität und gewinnt sein Vertrauen. Er erzählt ihr von seinem Tun, seinem Leben und seiner Einsamkeit. Wie warm es ihr in der Brust wird. Beschämt ertappt sie sich, wie seine Worte in die Ferne rücken, wenn sie ihm tief in die Augen blickt. Sie entspannt sich erstmals, als das Konzert beginnt. Gemeinsam lauschen sie den Liedern, lächeln über die morbiden, fröhlichen Geschichten. Sie kommen sich näher und sie spürt das Knistern und eine zunehmende Erregung, die von ihm ausgeht. Während der Zugabe ergreift er ihre Hand und lässt sie nicht mehr los. Mit dem Ende der Vorstellung haucht er ihr einen zarten Kuss auf die Wange und schaut sie fragend an. Sie zögert nur einen Augenblick, bevor sie ihm die Arme um den Hals schlingt, ihn an sich zieht und innig küsst.

Sie wird ihn bitten, heute Nacht mit zu ihr zu kommen, in ihr kleines, abgelegenes Häuschen vor der Stadt. Während der Fahrt wird sie seine Hände spüren wollen, die sich ihrer immer mehr bemächtigen werden. Sie werden es beide nicht erwarten können, sich die Kleider vom Leib zu reißen und sich ihrer aufgestauten Lust hinzugeben. Sie wird das Licht anlassen und ihm befehlen, ihr tief in die Augen zu schauen, den Blick nicht von ihr abzuwenden. Danach  wird er erschöpft die Augenlider schließen und glücklich einschlafen. Er wird sie wieder aufreißen, wenn sie ihm mit zärtlicher Kraft die Kehle durchgeschnitten haben wird. In seinem erschrockenem Gesichtsausdruck wird sie ihm letztmals befehlen: „Schau mir in die Augen, Kleiner!“ Beruhigend wird sie ihm immer wieder ewige Liebe schwören, bis er sein Leben ausgehaucht hat. Dann wird sie ihm diese beiden wundervollen Augen nehmen.

Morgen wird sie die Spuren der Nacht beseitigen und den diesjährigen Weihnachtsbaum kaufen. Und am Heiligen Abend wird sie ihn in anbrechender Dunkelheit zuerst mit Lametta und den Bienenwachskerzen kleiden, um dann die Christbaumkugeln aus ihrem Schrein zu holen. Paarweise wird sie sie vorsichtig dem Formaldehyd entnehmen und sorgfältig an den Baum hängen. Sie wird die Kerzen anzünden, um sich in wohliger Wärme zu entkleiden. Wie sie sich auf den wonnigen Schauder freut, der sie durchfahren wird, wenn die Augen all ihrer Liebhaber auf sie gerichtet sein werden. Und aus jedem der kleinen weißen Äpfel mit den schwarzbunten Ringen wird sie ein stummes Wispern spüren: „Schau mir in die Augen, Kleines!“

.

.

Filmriss (cd.geier)

Ich liebe diesen Film. Ich liebe diese Noir Atmosphäre. Die Schlichtheit von Schwarz und Weiß. Meine Freundin Marion lacht mich dafür aus. Ich sei stehen geblieben, sagt sie, die ewig Gestrige. Ich würde mich verschließen vor den Möglichkeiten, Träume zu leben, die Welt in vollen Zügen zu genießen. Ja, ich bin schlicht, das gebe ich gerne zu. Ich kleide mich in Schwarz und heitere Grautöne. Mein schwarzes Lieblingskostüm ist geziert mit weißen Rosen, vorbehalten den Tagen der Fröhlichkeit. Meine Freundin sagt, mein Leben sei wie meine Kleidung: farblos, trist, traurig. So würde ich nie eine Liebe finden, würde immer einsam sein. Sie irrt sich. Ich liebe mein Leben. Ich liebe mein Dasein, herausgeschnitten aus dem Schoß meiner Mutter. Ich brauche sie nicht, diese Oberflächlichkeit da draußen, diese Flüchtigkeiten der Geselligkeit, das Anbiedern im Buhlen nach Bestätigung, diese falschen Fröhlichkeiten in der Gier nach Sex. Männer und Frauen, Paarungen der Einfalt in einer Welt gleich bunter Luftballons, zum Erschlaffen und Platzen geschaffen. Manchmal hasse ich meine Freundin. Warum ich Marion meine Freundin nenne? Nun, jeder Mensch muss eine Freundschaft vorweisen, sonst gilt er als absonderlich.

Von wegen, ich würde nie eine Liebe finden. Ich musste nie eine Liebe suchen. Sie ist immer bei mir. Ich liebe meine Mutter. Erst recht seit jenem Karfreitag vor 17 Jahren. Seit diesem Tag pflege ich sie mit ihrer wächsernen Haut, schiebe sie in ihrem Rollstuhl ans Fenster, erfülle ihr jeden Wunsch.

Heute muss Mutter im Schlafzimmer bleiben. Marion kommt. Ich habe sie eingeladen. Wir werden uns meinen Lieblingsfilm anschauen. Wie glücklich bin ich über meinen 35-mm Projektor. Das Surren der Maschine, das leichte Flackern der Bilder – es gibt nichts Schöneres. Wir werden uns auf mein altes Sofa kuscheln. Auf dem gußeisernen Beistelltisch werden wir an einem Schokalden-Fondue naschen und wonnige Schauer werden mir über den Rücken bis in die Haarspitzen fahren, wenn Anthony Perkins „Mutter“ ruft. Alles ist vorbereitet.

Mutter gefällt das nicht. „Dieses Miststück kommt wieder ins Haus? Diese Hure in ihren billigen Fetzen! Ich will nicht, dass du dich mit der abgibst! Ich bin dir wohl ganz egal. Deine arme Mutter!“ schreit sie aus ihrem Zimmer. „Mutter, beruhige dich!“, versuche ich zu besänftigen. Es klingelt.

Marion sieht wirklich nuttig aus. Hautenge weiße Leggins, in denen sich ein Tanga abzeichnet, darüber ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck geöffneter Lippen und einem „Kiss me!“ Schriftzug. Sie trägt keinen BH. Die Farbe ihres Lippenstiftes deckt sich mit dem Rot auf ihrem T-Shirt. „Können wir gleich loslegen?“ stürmt sie ins Wohnzimmer. „Ich habe heute noch ein Date!“. „Hast du wieder deinen Jammerlappen übergeworfen?“ lästert sie über mein Rosenkostüm, während sie sich aufs Sofa wirft, eine Erdbeere in die flüssige Schokolade tunkt und sie dann genüsslich in den Mund schiebt. „Mmmmmhm, nicht schlecht!“

„Einen Augenblick noch, ich bin gleich fertig!“. Ich überhöre ihre gemeine Bemerkung und gehe in die Küche. Aus der Schublade hole ich die alte Schatulle mit dem in schwarzem Samt eingeschlagenen großen Küchenmesser. Vorsichtig nehme ich es in die Hand und streiche mit dem flachen Stahl über meine Wange. Ich liebe das Gefühl der glatten Kälte im Wechsel mit der warmen Rauheit der alten, verkrusteten Blutflecken. Erinnerungen werden wach. Ich schiebe das Messer unter das weit geschnittene Oberteil meines Kostüms, klemme es mit dem Träger meines Büstenhalters fest, prüfe den Sitz und erzittere, wie ich die Klinge auf meiner Haut spüre.

Zurück im Wohnzimmer lasse ich die beiden Rolläden herunter und taste mich im Dunkel zum Projektor. „Es geht los!“ freue ich mich und schalte ihn mit geübtem Griff an. „Wird auch Zeit!“, meckert Marion. „Was schauen wir denn heute? Hoffentlich nicht wieder so einen Schwarzweiß-Schinken!“ „Lass Dich überraschen!“, setze ich mich neben sie, als die Vorstellung beginnt.

Das Knistern und Flackern des Vorspanns auf der gespannten Leine vertreibt meinen Missmut über Marion. Das Einsetzen der Streicher im hektischen Stakkato, die Streifenstrukturen mit der Einblendung des Titels. „Psycho? Bitte nicht! Das ist doch Vollvorgestern, kenn ich schon, kenn ich schon, kenn ich schon. Und wegen sowas komme ich hierher?“, mault Marion. „Ach bitte Marion, Psycho ist doch zeitlos!“, flehe ich. „Na gut, wenn’s sein muss dir zuliebe“, seufzt Marion, „aber um 9 muss ich weg – mein Date, heute wird gevögelt! Wenigstens das Fondue ist gut.“ Ihre ordinäre Sprache lässt mich zusammenzucken und ich stelle mir Marion nackt vor, wie sie sich mit einem Mann im Bett wälzt. Ob sie vorher duscht? Ich verscheuche die ekligen Gedanken und konzentriere mich auf den Film. Die Unterschlagung, die Flucht, die Verfolgung – wir tunken die Früchte und Kekse in die heiße Schokolade. „Langweilig, langweilig!“, ätzt Marion immer wieder dazwischen. Die Streicher, die Stimmen im Kopf, der Regen und endlich: „Bates Motel – Vacancy“. Ich presse das Messer an meinen Körper und erzittere kurz. Das Kennenlernen, die Mutter und endlich die Duschszene. Die schrillen Streicher, die Wonne des Stahls auf meiner Haut, das lustvolle Grauen – plötzlich wird es schwarz. Filmriss! „Na super!“ fährt Marion in die dunkle Stille. „Und jetzt? Willst Du den Film flicken? Wie lange soll das dauern? Du bist doch zu blöd für diese Welt! Warum gebe ich mich eigentlich mit dir ab? Du bist eine Schande!“ Ich ziehe das Messer aus meinem Kleid und steche blind auf Marion ein. Mit jedem Hieb blitzen Szenen in meinem Kopf auf. Das Badezimmer am Karfreitag, ein Mädchen, Mutter nackt unter der Dusche, keifend: „Du bist doch zu blöd für diese Welt! Du bist eine Schande!“ Rote Lippen, „Kiss me“. Schrille Schreie dringen in mein Ohr. Marion. Meine Mutter. Marion. Das Messer in die Brust, in die Kehle, in den Bauch. Erinnerungen und das Hier vermischen sich in einem blutigen Rausch. Dann ist es still. Ich taste mich zum Lichtschalter und knipse die Deckenlampe an. Im fahlen Wohnzimmerlicht graut mir vor dem Anblick Marions auf dem Sofa. Ihre Augen sind schmerzverzerrt aufgerissen, aus den klaffenden Wunden fließt immer noch Blut. Ich kann kein Blut sehen. Mir wird schlecht. Ich übergieße sie aus dem Fonduetopf mit brauner Schokolade. Es geht mir besser. Mit ruhiger Hand flicke ich gekonnt den gerissenen Film und lege ihn wieder ein. Ich starte den Projektor und lösche das Zimmerlicht. Jetzt können Marion und ich den Film zu Ende schauen. Das Messer halte ich fest. „Ist die Schlampe weg?“, ruft Mutter aus dem Nebenraum. „Nein Mutter, sie ist noch hier“, erwidere ich. „Ich bringe dich gleich ans Fenster.“ Wenn ich Marion erst einmal gewaschen und ausgetrocknet habe, ihr ein hübsches schwarzes Kleid anziehe, wird Mutter bestimmt nichts dagegen haben, dass sie bei uns wohnen wird. Vielleicht verstehen sie sich ja auch gut mit ihrer wächsernen Haut. Dann kann ich mit Marion alle meine alten Filme anschauen. Und wenn sie nicht zickig ist, darf meine Freundin auch in meinem Bett schlafen. Nur ans Fenster darf sie nicht.

.

.

Eine Frage des Geschmacks (cd.geier)

„Ich glaube, sie mögen uns nicht.“ Linda stand am Fenster und lugte durch die blütenweißen Gardinen. Gerade war ihr Gegenüber, Graf Johann von Lohe, von seinem nachmittäglichen Waldspaziergang mit seinen beiden Doggen zurückgekehrt, hatte die schmiedeeiserne Pforte zu seinem herrschaftlichen Anwesen geöffnet und die Hunde von ihrer bei Fuß-Pflicht in die Gartenanlage entlassen. „Das bildest du dir nur ein“, erwiderte Freddy, umschlang seine Frau von hinten, legte sein Kinn auf ihre Schulter und schaute mit ihr aus dem zur Straße gelegenen Speisezimmer. „Der von Lohe“, sagte er, „ist wohl etwas schrullig, aber bestimmt nicht so streng, wie er tut. Ich tippe auf menschenscheu. Ist ja auch kein Wunder: so alleine auf einem so großen Anwesen zu leben. Er soll ja schon seit 15 Jahren verwitwet sein und sich nur noch für seine Hunde und seinen Wald interessieren. Alter Landadel eben.“ „Ich weiß nicht“, grübelte Linda, „ mir ist er unheimlich.“ Sie schmiegte sich enger an ihren Mann. „Und heute Nachmittag haben mich die beiden Kinder von den Bellings durch die Hecke beobachtet. Als ich ihnen zuwinkte ist das Mädchen, Carla heißt sie, glaube ich, sofort weggelaufen und der Junge hat mich schräg angeschaut und gefragt, wie lange wir hier wohnen bleiben wollen. Als ich hoffentlich für immer sagte, hat er geantwortet, dass er das nicht glauben würde.“ „Ach Linda, wir wohnen jetzt mal gerade 1 Woche hier. Und das ganze Hier ein Dorf zu nennen, wäre übertrieben mit unseren drei Nachbarn. Die kennen sich halt schon lange und uns kennen sie noch nicht. Gib der Sache einfach etwas Zeit. Ich freue mich jedenfalls riesig, dass wir mit diesem Haus unseren Glücksgriff getan haben und endlich raus aus der Stadt sind. Wir müssen dem Belling und dem von Lohe dankbar sein, dass sie es uns so unkompliziert und entgegenkommend vermietet haben. Wenn der Graf uns besser kennt, lässt er sicher noch mal mit sich über einen Verkauf reden. Und die Kösters machen nun wirklich einen freundlichen und offenen Eindruck“.

Es war ein glücklicher Zufall gewesen, dass ihre Radtour durchs Grüne sie an diesem Landgut am Waldrand vorbeigeführt hatte. Zunächst hatten sie neidvoll an den zu einer mondänen Wohnanlage umgebauten Stallungen Halt gemacht und sich gedacht, dass das Leben in solch abgeschiedener Lage ihr Wunschtraum, dass aber ein solch großes Haus eine Nummer zu groß sei. Der Blick auf das Haus gegenüber wurde durch ein hohes Tor und eine hohe Hecke versperrt. Mit Bewunderung hatten sie die gepflegte Gartenanlage des Herrenhauses mit den geschwungenen Wegen, vielfältigen Blumenbeeten und Obstbäumen passiert. Zwei weißschwarze Doggen lagen in der Nähe der Toreinfahrt und nagten zufrieden an ihren frischen Knochen. Als das junge Paar das Tor passierte, registrierten sie dieses gelassen. Und dann, kurz vor dem Wald, verzauberte sie das kleine doppelstöckige, backsteinerne Kossättenhäuschen auf den ersten Blick. Es war mit Wein berankt, hatte einen spitzen Holzgiebel, moosbewachsene Dachpfannen und hübsche, braun und grün lackierte Holzfenster mit Außenläden. Alles war in einem gepflegten Zustand. Und im verwucherten Vorgarten war eine Tafel eingepflockt mit der Aufschrift „Zu vermieten!“ nebst einer Telefonnummer. Linda und Freddy war sofort das Herz aufgegangen. Sie notierten die Nummer und sprachen den Rest des Tages nur noch über das verwunschene Häuschen und die einmalige Gelegenheit, der Stadt endlich den Rücken zu kehren und in idyllischer Ruhe ihren Kinderwunsch zu verwirklichen.

Am nächsten Tag wurde telefonisch mit Herrn Belling im Auftrag von Graf von Lohe ein Besichtigungstermin vereinbart und eine Woche später, nach Bedenkzeit für beide Parteien, der Mietvertrag unterschrieben. „Wir sind hier eine eingeschworene kleine Gemeinschaft am Rande der Welt“, hatte Herr Belling ihnen in ernstem Ton mitgegeben, „ und wir wollen, dass das so bleibt. Sie sind herzlich eingeladen, dies mit zu füttern.“ „Das hört sich verlockend an und ist ganz nach unserem Geschmack, nicht wahr Linda?“, hatte Fred geantwortet und Linda hatte nickend beigepflichtet.

Vier weitere Wochen hatte es gedauert, das neue Heim herzurichten und die Stadtwohnung aufzulösen. Für den Umzug hatten die Kösters, das Ehepaar in den Stallungen, darauf bestanden, ihnen einen kleinen LKW und zwei Hilfsarbeiter aus ihrer Fleischfabrik zur Verfügung zu stellen. „Desto schneller Sie hier sind, desto schöner ist es für uns. Endlich wieder Frischfleisch in unseren Gefilden, wie man in unserer Branche gerne sagt!“, hatten sie das glückliche Paar lachend willkommen geheißen.

Heute sollte der Abend sein, sich kennen zu lernen. Alles war schlicht und gemütlich eingerichtet und der Geruch der frischen Wandfarben nahezu verblasst. Linda hatte die Bellings, Kösters und Graf von Lohe auf ein Abendessen eingeladen. Das Menu aus buntem Salat, geräucherter Forelle, Lammrücken und Vanille-Eis mit heißen Himbeeren hatten sie gemeinsam zusammengestellt. Der Lammrücken schmorte im Herd und alles war soweit vorbereitet, dass die Gäste kommen konnten. „Hoffentlich schmeckt es ihnen“, drückte Linda ihre Sorge aus. „Du bist die beste Köchin der Welt!“ Freddy versuchte ihr die Sorge auszureden. „Oh Gott, nur noch eine halbe Stunde, ich muss mich noch duschen und anziehen“, entzog sich Linda Freddys Umarmung. „Und du, mach dich auch schick!“

Pünktlich auf die Minute klingelte es. Linda und Freddy öffneten die Türe und erblickten die versammelte Nachbarschaft. „Wie schön, dass Sie uns alle beehren, herzlich willkommen in unserem trauten Heim“, begrüßte Linda fröhlich die Gesellschaft und lud sie ein, einzutreten. „Wir müssen ein wenig zusammenrücken“, warnte sie vor, während sie die fünf Gäste ins Speisezimmer geleitete, „die Räumlichkeiten sind kaum für eine größere Runde angelegt.“ „Das bekommen wir schon hin“, antwortete der in einem lässigen Anzug gekleidete Herr Belling mit jovialer Stimme und ließ seiner schlanken Frau den Vortritt.

„Ein Aperitif?“, fragte Freddy in die Runde. Das Angebot wurde benickt. „Herr Graf, wenn Sie als Ehrengast bitte an der Stirnseite Platz nehmen.“ „Wir haben Ihnen auch ein Gastgeschenk mitgebracht“, eröffnete Frau Köster in ihrer Üppigkeit und zog eine ellenlange, schwarze Holzkiste hinter ihrem Rücken hervor, um sie Linda zu überreichen. „Ach, das wäre doch nicht nötig gewesen“, bedankten sich Linda und Freddy unisono. „Noch so jung und schon so einig“, ließ sich der Graf mit rauer Stimme erstmals vernehmen. „Vielen Dank für die Einladung. Vielleicht packen Sie das Geschenk nach dem Aperitif aus.“

Die Runde nahm etwas beengt Platz an dem ausgezogenen Tisch und Freddy beeilte sich, das vorbereitete Tablett mit Pflaumenlikör herumzureichen.

Sie prosteten sich zu und es entspann sich eine lockere Fragerunde zu Lindas und Freddys Werdegang: Was es bedeute, das bisherige Leben hinter sich zu lassen, wer sie vermissen würde, welche Zukunftspläne sie hätten. Beide antworteten eifrig, noch spürbar angespannt, nichts Nachteiliges zu äußern. Im Gegenzug fragten die Beiden nach der Geschichte ihres Hauses und wer es vorher bewohnt habe. Es sei ebenfalls ein junges Paar gewesen, das aber schon nach kurzer Zeit wieder Abschied vom Landleben genommen habe. Sie hätten sich das wohl anders vorgestellt.

„Nun ist es aber Zeit fürs Essen“, unterbrach Freddy das Gespräch. „D’accord“, pflichtete der Gaf bei. „Aber vorher öffnen Sie bitte noch unser Geschenk!“. „Sehr gerne“, antwortete Linda, ergriff die Kiste und öffnete sie am seitlichen Klappverschluss. „Oh, wie edel“ bewunderte Freddy den Inhalt. In rotem Samt waren ein silbernes Tranchiermesser und eine Fleischgabel eingelegt. „Herr und Frau Köster zeigen Ihnen gerne, wie diese Werkzeuge zu gebrauchen sind. Walten Sie bitte Ihres Faches!“, ordnete der Graf mit gebieterischer Stimme an. Noch bevor Linda und Freddy den plötzlichen Stimmungswechsel erfassen konnten, wurden Linda von Frau Belling und Freddy von Herrn Belling in bestens koordiniertem und kraftvollem Bewegungsablauf in ihre Stühle gepresst und ihre Arme hinter den Lehnen festgehalten, so dass sie bewegungsunfähig waren. Mit Schreck geweiteten Augen nahmen sie wahr, wie Frau Köster mit teuflischem Grinsen das Tranchiermesser ergriff und auf Linda zuging und sich Herr Köster der Fleischgabel bediente und sich Freddy näherte. Beide blickten auf Graf von Lohe. Dieser saß aufrecht gelassen auf seinem Stuhl, blickte einmal erhaben in die Runde und nickte dann leicht mit dem Kopf. Auf dieses Zeichen durchschnitt Frau Köster Linda mit dem Messer die Kehle und jagte Herr Köster Freddy die Fleischgabel mit gezielter Wucht ins Herz. Durch die Fontänen spritzenden Bluts nahmen die beiden als Letztes wahr, wie der Graf äußerte: „Die beiden sind wohl ganz nach unserem Geschmack!“

Am nächsten Tag knabberten zwei zufriedene Doggen in der Toreinfahrt des Herrenhauses an frischen Knochen und registrierten gelassen ein junges Paar, das am bezaubernden Kossättenhäuschen die Fahrräder abstellte und sich über das Schild freute: „Zu vermieten!“

.

.

Einen Bären aufgebunden (cd.geier)

Missmutig stapfte er hinter ihr her. Zehn Tage waren sie nun schon unterwegs und Albert konnte dem Ganzen immer Weniger abgewinnen. Diese öden Tundraflächen mit dem penetranten Postkartenpanorama des schneebedeckten Delani. Die Tortur, den Ruth-Gletscher entlang zu wandern, dieses dreckige Etwas. Von ihm aus konnten alle Gletscher dieser Erde schmelzen. Nach dieser Reise, wenn er sie denn überlebte, würde ihm kein einziger fehlen. Und dann immer wieder in der Ferne die Bären, völlig unbeeindruckt von Sabrinas Jauchzen und Winken. Hätte er nicht wenigstens auf der einen oder anderen Übernachtung in einem Camp oder Hotel bestehen können? Nein, Sabrina wollte unbedingt die völlige Wildnis erleben. Jeden Abend mussten sie unter der Pein von Millionen Mücken das Zelt aufschlagen und er musste das streng rationierte Dosenfutter runterwürgen. Na, wenigstens war Sex kein Thema. Dazu waren sie in seltener Einigkeit nach den Anstrengungen der Fußmärsche unter der Last des Gepäcks zu erschöpft. Noch vier Tage, dann hatte er es überstanden. Nun gut, er hatte Sabrina die Reise versprochen. Das letzte Versprechen ihr gegenüber. Er bemühte sich, es sportlich als Abschiedsgeschenk zu nehmen. Wenn sie wieder zu Hause waren, würde er ihr reinen Wein einschenken. Es war vorbei.

Sabrina tänzelte leichtfüßig zwischen den bemoosten Steinen über die weiche Fläche der Pflanzendecke. Kaum noch spürte sie das Gewicht ihres Rucksacks. Und schon fast greifbar vor ihnen lag der Waldrand. Nach der Kälte des Hochgebirges und der Weite der Tundra kamen sie jetzt zur letzten Etappe ihrer Wanderung, neigte sich ihre gemeinsame Reise dem Ende zu. Sie zückte die Steinschleuder aus ihrer Beintasche, fischte einen scharfkantigen Kieselstein aus ihrer Beintasche, fixierte ihn im Gummi, zielte auf einen Felsbrocken in einigen Metern Entfernung, zog mit ausgestrecktem linken Arm das Band bis zu ihrem Kinn durch und ließ den Gummi sausen. Ein scharfer Knall goutierte ihren Treffer. Das Üben hatte sich gelohnt. Ihre Muskeln waren straff und mit Leichtigkeit konnte sie maximale Zugkraft und Treffgenauigkeit mit ihrer Schleuder abrufen. „Komm schon Albert,“ drehte sie sich kurz zu ihrem Mann herum, „gleich sind wir im Wald und wir müssen noch einen Lagerplatz finden.“ „Du machst das schon“, brummte er und schlurfte in seiner Übellaunigkeit weiter, den Blick auf den Boden gerichtet.

Der Schatten des Waldes empfing Sabrina mit angenehmer Kühle. Die größte Hitze des Sommertages lag zwar hinter ihnen, doch die pralle Sonne in der offenen Landschaft hatte sie gehörig ins Schwitzen gebracht. Jetzt galt es eine geeignete Stelle für diese hoffentlich großartige Nacht zu finden. Zügig durchstreifte sie das lichte Unterholz auf der Suche nach einer Lichtung, musste aber immer wieder anhalten, um Albert aufholen zu lassen. Nach etwa 20 Minuten wurde sie fündig. In etwa 50 Metern Entfernung machte sie eine helle Stelle aus, die sich als kleine, Gras bewachsene Lichtung entpuppte. „Albert, hierher! Ist das nicht ein herrliches Fleckchen für diese Nacht?“, rief sie begeistert. „Komm, lass uns schnell das Zelt aufbauen, bevor es dunkel wird.“ Herbert betrat die Lichtung, schaute sich wortlos um, und begann, inzwischen routiniert das 3-Mann Zelt auszupacken und aufzubauen. Nach einer halben Stunde war es geschafft. Sabrina nutzte die Zeit, um Holz für ein kleines Feuer zu sammeln. Vorsichtig schlich sie dabei durch den Wald und lauschte aufmerksam, ob sich Tiere in der Nähe befanden. Etwas enttäuschend für sie blieb alles ruhig.

Mit der Dämmerung entfachte Sabrina das Feuer und bereitete das Abendessen vor. Aus dem Speisefach ihres Rucksacks kramte sie nach dem Stück eingeschweißten Speck und nach einer der beiden Dosen Brathering. Zärtlich und versonnen lächelnd strich sie über die Dose Bienenhonig, um dann den Tablettenstreifen aus ihrem Waschbeutel zu nehmen. Sie platzierte das Essen und die Teller am Lagerfeuer. Nun musste sie nur noch das Schlafmittel in der Trinkflasche auflösen und ihren im Zelt weggedösten Mann wecken.

„Albert, Essen ist fertig!“ rief sie in die aufziehende Dunkelheit. Nach wenigen Augenblicken bemühte er sich gebückt und, wie immer missmutig, aus dem Zelt. „Mir ist heute nach kalter, deftiger Küche“, bereitete Sabrina ihn schon einmal vor. Ohne Erwiderung setzte er sich neben ihr auf den Boden und sie nahmen schweigend das Abendessen ein. Der salzige Speck ließ ihn reichlich trinken. Sie saßen noch kurz am Feuer, bis das Schlafmittel seine Wirkung tat. „Heute bin ich aber total erschlagen, ich muss mich gleich hinlegen“, verabschiedete sich Albert, stand auf und torkelte Richtung Zelt. „Kein Problem, ich mache hier alles fertig. Schlaf gut!“, rief Sabrina hinter ihm her.

Kaum war er im Zelt verschwunden, begann Sabrina ihren Plan umzusetzen. „Einfach das Gegenteil machen von dem, was uns der Ranger gesagt hat“, bestätigte sie die Schritte. Zuerst lief sie die Ränder der Lichtung ab, um in kurzen Abständen ein abgeschnittenes kleines Stück des würzig duftenden Specks zu drapieren und hier und da ein paar Tropfen der Heringsmarinade an die Bäume zu schmieren. Zurück an ihrem Platz schnarchte Albert schon. Sie öffnete die andere Dose Bratheringe und legte eine Spur aus Fisch und Flüssigkeit vom Zelt an den nahen Waldrand. Als letztes öffnete sie Dose Honig, übergoss den tief schlafenden Albert mit der klebrigen Flüssigkeit und legte mit dem Rest ebenfalls eine Spur zum Zelt. Sie schnappte ich ihre Trinkflasche, die Steinschleuder und versicherte sich der scharfkantigen Steine in ihrer Beintasche. Dann löschte sie das Feuer. Im Licht ihrer Taschenlampe kletterte sie auf den Baum in der Nähe des Zeltes, den sie für die Wahl ihres Zeltplatzes ausgesucht hatte. Jetzt hieß es nur noch warten und hoffen.

In den Geräuschen des nächtlichen Waldes, sann Sabrina über die Unvermeidlichkeit ihres Tuns. Wie er sie früher Bärchen genannt hatte. Sie hatte ihn gefragt, warum Bär, worauf er geantwortet hätte, dass sie so putzig und pummelig wie ein Bär sei. Putzig und pummelig – dieser selbstherrliche Stoffel. So begann ihr Interesse an den Raubtieren und es wuchs mit zunehmendem Desinteresse und zunehmender Abneigung zwischen den Eheleuten. Und die Grizzlys waren ihre Könige! Wie gerne wollte sie sie in natura erleben, wie gerne in ihrer Nähe leben. Die Lebensversicherung, die sie von ihrem Haushaltsgeld auf Albert abgeschlossen hatte, wird ihr diesen Traum bald erfüllen. Das wird unbestritten ein natürlicher Tod sein!

Zuerst hörte Sabrina das Knacken von Ästen, dann ein markantes Schnüffeln. Ein Bär! Sie hielt den Atem an, als der wuchtige Schatten direkt unter ihrem Baum auf die Lichtung trottete. Im fahlen Mondschein beobachtete sie fasziniert, wie das riesige Tier immer wieder kurz innehielt und die Fischstückchen aufleckte. So näherte der Grizzly sich dem Zelt. Sabrina lud die Steinschleuder. Der Bär schob seine Masse durch die Zeltöffnung. Kurz darauf ertönte ein erschreckter Schrei und das Zelt begann wild zu wackeln. Sabrina zielte mit ihrer Waffe auf das aus dem Zelt herauslugende Hinterteil des Bären und jagte das spitze Geschoss los. Das Tier zuckte kurz und quittierte den Schreck mit einem wütenden Brüllen, in das sich menschliche Schreie mischten. „Jetzt bist du wohl wach, Albert!“ dachte sie sich lächelnd. Und sie schoss noch einen Stein auf den Bären. Der folgende ungleiche Kampf zwischen Mensch und Tier hatte nichts Putziges an sich. Als alles vorbei war, flüsterte sie liebevoll in Richtung des wegtrottenden Schattens. „Mein Bärchen!“

.

.

Das Urteil (cd.geier)

„Der Angeklagte möge sich erheben!“ Mit weichen Knien und gesenktem Blick war ich aufgestanden. „Der Angeklagte wird des 4 fachen Mordes für schuldig befunden. Das Urteil lautet: Tod durch den Strang. Das Urteil ist mit dem nächsten Sonnenaufgang zu vollstrecken. Die Sitzung ist geschlossen.“ Der Hammerschlag erfasste mich mit solcher Wucht, dass er mich von den Beinen holte. Ich sackte zurück auf den harten Holzstuhl. Mir wurde kotzübel. Mit Gedankenblitzen aus allen Richtungen versuchte ich die Tragweite des Urteils zu erfassen. Nur noch eine Nacht für mein Leben? Was wird mein letzter Blick, mein Letzter Gedanke sein? Werde ich Schmerzen erleiden müssen? Erwartet mich ewige Dunkelheit? Gibt es ein Bewusstsein danach? Muss ich in eine Hölle? Was wünsche ich mir als Henkersmahlzeit? Ich fühlte mich zu jung zum Sterben. Das konnte nicht gerecht sein. Zugegeben: ich war stetes ein Befürworter der Todesstrafe gewesen. Auge um Auge, Leben nehmen für Leben genommen. Nur jetzt, wo ich selber dem Henker übergeben werden sollte, musste ich die Leichtfertigkeit dieser Logik erkennen. Aber dem richterlichen Urteil war nicht mehr zu widersprechen.

Es war ein Indizienprozess. Keine der Leichen war gefunden worden. Es hatte keine Zeugen gegeben. Ich hatte mich gestellt. Ich musste mich stellen. Mein letztes Opfer war unschuldig gewesen. Die Zeitungen hatten es auf ihren Titelblättern gebracht: „Unschuldiger lebenslang im Gefängnis – jetzt verschwunden!“ Nein, er hatte seine Frau nicht mit 25 Messerstichen getötet. Er hatte die 12 Jahre für die Tat eines anderen abgesessen. Nach seiner Entlassung hatte der Nachbar den grausamen Mord gestanden. Zu spät für ihn, zu spät für mich, zu spät für uns. Vor seiner Rehabilitierung hatte ich ihn nach bester Planung abgepasst, ihn in meinen Keller entführt und ihn zum Tode verurteilt durch 25 Messerstiche. Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Er hatte geschrieen, hatte seine Unschuld beteuert. Mit professioneller Kälte waltete ich meines Henkeramtes, ignorierte sein Flehen. Mit professioneller Kälte ließ ich ihn ausbluten, versenkte ihn im Säurebad und beseitigte alle Spuren. Keine Zeugen, keine Leichen. Auge um Auge, Leben nehmen für Leben genommen. Bis zu diesem Punkt hatte alles seine Ordnung und Richtigkeit gehabt. Die Drei zuvor hatten ihre Strafe verdient gehabt. Zweifellos. Ein paar Jahre Gefängnis in Gemütlichkeit und mit Vollverpflegung für bestialisches Morden? Das sollte Gerechtigkeit sein? Nein, hier war die Justiz zu weich. Hier war vollste Härte erforderlich, um den Opfern Wiedergutmachung zu gewähren. Es war mir gegeben gewesen, gnadenloser Richter und Vollstrecker zu sein.

Die Beweisaufnahme in meinem Fall war schnell erledigt. Der Prozess beruhte alleine auf meinem Geständnis. Ich hatte nichts verheimlicht. In seinem Plädoyer hatte der Ankläger meine Gewissenlosigkeit ins Feld geführt. Nicht ganz frei von Bewunderung hatte er die Präzision und Nichtnachverfolgbarkeit meines Werkens betont. Als unfassbar schilderte er in allen Details die Grausamkeit meines Mordens: Verbrennen bei lebendigem Leib, Zerstückeln mit einer Axt, ans Bett gefesselt verdursten Lassen und schließlich Mord durch 25 Messerstiche. Dieser Heuchler! Nun gut, im letzten Fall hatte er ja Recht mit seiner Empörung. Ich hatte den Falschen erwischt. Bei den anderen war es zweifellos genau das Leid, das diese Tiere ihren Opfern zugefügt hatten, sich daran vielleicht sogar ergötzt hatten. Selbstverständlich schloss der Staatsanwalt mit dem unvermeidlichen Verweis darauf, dass die Täter ihre gerechte Strafe allesamt bereits verbüßt gehabt hätten und verlangte ein Exempel zu statuieren, um das Gewaltmonopol der staatlichen Gerichtsbarkeit zu demonstrieren und aufrecht zu erhalten. Für ihn gab es nur ein mögliches Urteil: die Höchststrafe.

Mein Verteidiger bemühte sich, mich in einem guten Licht erscheinen zu lassen: geordnete Lebensverhältnisse, ein braver Bürger. Es wäre doch nur das Streben nach Gerechtigkeit im alttestamentarischen Sinne gewesen, das mich zu meinem Handeln gezwungen hätte. Auch er schilderte nochmals die Art und Weise meiner Taten, allerdings mit Bezug auf Ursache und Wirkung. Er schloss sein Plädoyer mit der Frage, wer denn in diesem Prozess Opfer und wer Täter sei. Mit dem Vergehen an einem Unschuldigen hätte ich doch nicht nur mit tiefster Reue zu kämpfen, sondern mich sogar freiwillig und geständnisvoll dem Gericht unterstellt. Mit diesem Schachzug versuchte mein Verteidiger auf mildernde Umstände hinzuwirken und forderte die Einweisung in eine psychiatrische Anstalt.

Ein letztes mal blicke ich in die aufgehende Sonne, wie sie sich rot über den Dächern der Stadt erhebt. Der Strick um meinen Hals sitzt fest angezogen. Es ist ein guter Strick. Meine Hinrichtung soll glatt verlaufen. Kein Kratzen der Hanffasern soll mich unangenehm berühren, die Schlinge soll sich reibungslos zuziehen. Ich blicke noch einmal nach oben. Der Balken ist so unnachgiebig wie mein Richter. Mit beiden Füßen schiebe ich den Stuhl unter mir weg.

.

.

Vereint (cd.geier)

Ein kleines Aufbäumen, ein letzter Atemzug. Sie ist tot. Das Tuckern des Motors übertönt sein eigenes Röcheln. Mühsam stützt er sich auf seinen Ellenbogen, um sich über sie zu beugen, ihr den Abschiedskuss zu geben. Er erschrickt, als ihn die Starre ihrer halb geöffneten Augen durch den Nebel trifft. Er versucht sie zu schließen, mit einer Hand, so, wie sie es so oft im Film gesehen haben. Es will nicht gelingen. Er muss Kraft aufbringen, die Lider einzeln niederzudrücken. Dann streicht er ihr sanft eine Strähne ihres ergrauten Haares aus dem Gesicht und ordnet sie vorsichtig in ihren Scheitel ein. Mit den Fingerspitzen fährt er ihr liebevoll über das Gesicht, über die Stirn, über ihren leicht geschwungenen Nasenrücken, über ihre Lippen. „Ich liebe dich“, haucht er ihr ins Ohr, „immer und ewig.“ Geschwächt sinkt er in ihrer Seite zurück und schmiegt sich eng an sie. Noch zwei, noch drei Minuten? Dann wird er wieder bei ihr sein, für immer und ewig.

Bilder und Fetzen der Vergangenheit schießen ihm durch den Kopf. Das Leben zieht an ihm vorbei. „Wenigstens das ist so wie im Film,“ denkt er sich dankbar. Wie sie sich in der Grundschule verliebt hatten und Hochzeit gespielt hatten. Sie mit ihren Sommersprossen, ihrem braunen, zu Zöpfen geflochtenem Haar in einem weißen Kleidchen. Er mit seiner dicken Hornbrille in seinem Sonntagsanzug, den er heimlich aus dem Schrank geholt hatte. Die Ringe aus dem Kaugummiautomat. Wie viele unnütze Kaugummis und Plastikkram mussten sie ziehen, um endlich zwei Ringe zu haben? Seine Sparbüchse war daraufhin jedenfalls leer. Es spielte keine Rolle. Das Glück des unter der Linde am Dorfrand gegebenen Versprechens ewiger Liebe und Treue, bis dass der Tod sie scheide, das Glück des ersten vorsichtigen Kusses, die Spielereien von Familienglück mit ihren Puppen, trug sie durch die feindliche Welt der Erwachsenen und Altersgenossen. Der erste Sex. Wie sie mit 13 Jahren am Waldrand oberhalb des kleinen Tals auf einer Picknickdecke, sich ängstlich zusprechend, das Land der Sinnlichkeit und Lust betraten. Ihre Hochzeit in der kleinen Kapelle auf Sizilien, fernab von bedeutungslosen Familien und Freunden. Ihre Hochzeitsnacht in ihrem VW-Bus, im Strand im Rauschen des Meeres. Die Geburt ihrer Tochter und das viel zu kurze Familienglück. Nelly, mit ihren Sommersprossen und den braunen Zöpfen, ganz die Mutter. Das Leichenschauhaus. Sie mussten ihre Nelly identifizieren, missbraucht und umgebracht. Blass aufgebahrt in einer Schublade, die grausamen Würgemale am Hals, so klein, so unschuldig. Trauer und Wut erfasst ihn für einen Moment, lassen ihn erstarren. Ihm wird nochmals kotzübel. Er beruhigt sich: „Gleich werde ich auch Nelly wieder sehen, gleich werden wir wieder unsere Familie sein.“ Sie suchten Trost auf ihren Reisen, fassten ihren Verlust als Prüfung ihrer Liebe auf. Und stellten sich dieser Prüfung, bestanden sie – jeden Tag. Die Monate und Jahre vergingen. Ihre Liebe blieb, wie ihr alter VW-Bus. Mit ihm und in ihm hatten sie ihre Insel der Geborgenheit. Er trug sie durchs Leben, über die Straßen Europas an unzählige wunderschöne Orte.

Sie saß neben ihm und hielt seine Hand, als er seine Diagnose bekam: Krebs, Schilddrüse, Endstadium. Sie fragte gefasst: „Wie lange noch?“ Sie drückte seine Hand noch fester, als der junge, braungebrannte Arzt mit routiniertem Mitleid antwortete: „Vielleicht noch 3 Monate.“ Sie war es, die ihn aus dem Krankenhaus führte, ihn in ihrem alten VW-Bus nach Hause fuhr. Sie nahm ihm die Panik, wie sie ihn auf das Sofa setzte, ihn fest umarmte, küsste und sagte: „Ich gehe mit dir!“ Sie ließ keinen Widerspruch zu. Sie gab ihm in den folgenden Wochen das Morphium gegen seine Schmerzen. Sie war das Leben, während er schon starb. Sie fuhr den VW-Bus ein letztes mal nach Sizilien und wieder zurück. Sie wollten noch einmal in die kleine Kapelle und an ihren Strand, um im Rauschen des Meeres Abschied von der Schönheit dieser Welt zu nehmen. Sie regelte alles, kümmerte sich um die Vorbereitungen. Er litt darunter, sie im Nebel des Morphiums nicht mehr klar wahrnehmen zu können. Sie fuhr den alten VW-Bus in der Dämmerung an den Waldrand. Sie schloss den Schlauch an den Auspuff, führte ihn durch das Seitenfenster und versiegelte das Fenster. Sie injizierte sich und ihm das Morphium. Sie startete den Motor, nachdem die Sonne untergegangen war. Sie legte sich neben ihn, küsste ihn innig und dankte ihm für das Glück, das er und nur er ihr gegeben hatte.

Er sammelte noch einmal all seine Kräfte, als ihr übel wurde, sprach ihr zu, dass es gleich geschafft sei. Er hielt sie fest, als sie halluzinierte, als sie schreiend und weinend Nelly um Verzeihung bat, sie im Stich gelassen zu haben, sich selber des Mordes an ihrer kleinen Tochter anklagte, um die braunen Zöpfe abzuschneiden.

Jetzt erfasste ihn Leichtigkeit. Von der Seite bewundert er die sanften Züge seiner Liebe. Das Profil verschwimmt. Sind es die Abgase oder ist es jetzt soweit? Sein Herz pocht noch einmal heftig. Sein Atmen bringt ihm keine Luft mehr. Dann setzt es aus.

.

.

Geisterbahn (cd.geier)

Sie liebt den Rummel. Sie liebt diesen Trubel aus lärmenden Fahrgeschäften und Schaustellern mit kakophonischer Musik und grellen, blinkenden Lichtern. Sie liebt die jauchzenden und panischen Schreie der Menschen in den rasenden, sich wild drehenden oder überschlagenden Karussells, Spinnen und Achterbahnen. Sie liebt den Anblick der aufgeregten Kinder, wie sie ihre Eltern und Großeltern hier hin und dort hin zerren. Sie beneidet die verliebten Paare. Sie möchte sich endlich glücklich verlieben.

Heute vor 20 Jahren war ihre Großmutter gestorben. Ihre Omi, die sie jedes Jahr mit auf den Rummel in der Stadt genommen hatte. An die sie sich in der Geisterbahn in kindlichem Schrecken klammerte. Heute verliebt sie sich. Sie verliebt sich in Hugo, ihr siebtes Blind Date. Nach den routinierten Schreiben auf der Partnerbörse war ihre Aufregung bis zum heutigen ersten Treffen fast unerträglich geworden. Er fand, das Dating auf einem Rummel sei eine lustige Idee. Jetzt kauft er die Tickets für die Geisterbahn – „Real Death“, ein vielversprechender Name für ihr Lieblingsfahrgeschäft. Die nächsten Minuten werden der Höhepunkt ihres Rummelbesuchs sein. Wundervolle Abendstunden liegen bereits hinter ihr: Hugo entspricht ihren Vorstellungen, hat ihr in seinen Briefen nichts vorgemacht. Mit seinen dunklen Haaren und Augen und seinem braunen Teint wirkt er südländisch. Mit seinem Charme, Temperament, seiner Behutsamkeit und seinen kleinen Komplimenten hat er bereits ihr Herz geöffnet. Sie wünscht sich seine Berührung.

Sie steigen in den kleinen Wagen. Sie schmiegt sich leicht und unaufdringlich an seine Seite, fühlt wonniges Knistern ihren Körper durchströmen. In ihrer Phantasie wird Hugo gleich einen Arm um sie legen und sie wird sich in ihrem Schaudern an ihn klammern und ihn dann nie wieder loslassen. Der Wagen fährt an. Bevor sich das Tor zum dunklen Labyrinth öffnet, werden, wie jedes Jahr, die Erinnerungen an die letzte Geisterbahnfahrt mit ihrer Omi wach. Heute verblassen die Bilder sofort. Der Wagen fährt ein.

Sie bemerkt sofort: diese Geisterbahn ist anders. Der Wagen wackelt nicht auf Schienen, sondern gleitet lautlos und kaum spürbar dahin. Statt zischender, knallender Hydraulik und blechernem Gelächter und Geschrei aus billigen Lautsprechern empfängt sie die Ruhe einer kleinen Totenkapelle mit leichter Orgelmusik. Die leichenblasse, schwarz gekleidete Trauergemeinde umringt einen Sarg, in der sich eine junge Frau geknebelt und gefesselt in Todesangst windet. Erst beim genauen Hinsehen sind die kleinen tödlichen Stich- und Schusswunden der Gruppe erkennbar. Ein süßlicher Duft erfüllt den Raum. Es ist das Aroma das sie seit 20 Jahren liebt, das sie zum ersten Mal aufgenommen hat bei der Aufbahrung ihrer Omi. Keine ihrer Freundinnen weiß, dass sie sich heimlich in Aufbahrungshallen schleicht, um an den offenen Särgen diesen Geruch einzusaugen. Das wird ihr Geheimnis bleiben.

Auch Hugo wird still, während sie durch die folgenden Schreckens-Szenarien geführt werden: die obligatorische Folterkammer mit stickiger, modriger und von Todesangstschweiß durchsetzter Luft, die Ermordung einer Familie in ihrer spießbürgerlichen Wohnung, das Schlachthaus mit dem Gestank von Blut und Fäkalien, in dem Menschen von Schweinen verarbeitet werden. Und überall dieser bewundernswerte Realismus: wo sonst überzeichnete und billig anmutende Plastikautomaten mechanisch, ruckartig zucken, bewegen sich die bis ins Detail perfekt geformten Figuren hier in natürlichen Aktionen. Das Grauen hat die Connaisseuse gepackt. Und dann legt Hugo seinen Arm um ihre Schultern. Sie erbebt am ganzen Leib in einer Mischung aus sinnlicher Sehnsucht und Schaudern des Schreckens. Noch nie hat sie solche Gefühle erlebt!

Der folgende Raum ist ein antikes, von Dampffetzen durchsetztes Badehaus. In einer Orgie geben sich feiste Römer verschlungen ihren Lüsten hin oder ergötzen sich an der Tötung von jungen Sklaven. Als sie durch eine Nebelschwade fahren, nähern sich zwei zart gebaute Jünglinge mit kleinen Löchern in der Stirn und streichen ihnen sanft übers Haar. Hugos Griff verkrampft sich in ihrem Oberarm und er bäumt sich kurz auf. Wieder holt sie die Erinnerung ein: es war die grobe Berührung der Skeletthand gewesen, die Omis schwaches Herz zum Stillstand gebracht hatte. Omi hatte sich in dem kleinen Wagen an ihr fest gekrallt und noch ein paar Mal gezuckt. Dann war ihre geliebte Großmutter tot. Jetzt erzittert Hugo am ganzen Leib und sackt plötzlich zusammen. Sie wird ohnmächtig.

„Bittä ausstaigän, die Fahrrt ist hiärr zu Ändä!“ Mit dieser durchdringenden Stimme kommt sie wieder zu Bewusstsein. Benommen sitzt sie in dem kleinen Wagen. Der Platz neben ihr ist leer. Keine Spur von Hugo. „Wo ist mein Begleiter?“ fragt sie den stämmigen Mann in einem schmutzigen „Real Death!“ T-Shirt. „Därr ist wäg!“, gibt er ihr desinteressiert zu verstehen.

Sie geht nach Hause. Sie versucht ihn zu erreichen. Keine Antwort. Traurig, einsam und voller Selbstzweifel, aber doch fasziniert von dieser neuen Geisterbahn fällt sie in einen leichten Schlaf. Morgen wird sie noch einmal mit dieser Geisterbahn fahren. Sie wird jedes schaurige Detail aufnehmen, sich jeder Gefühlsregung hingeben. Und in der Badehausorgie wird ihr ein schöner, südländisch anmutender Mann mit dunklen Haaren und Augen und leichenblassem Teint sanft über die Haare streichen. Er wird ein süßliches Aroma verströmen und der feine Schnitt über seinen Hals wird kaum erkennbar sein. Diese kurze Zärtlichkeit Hugos wird ihr in die Lenden fahren. Danach wird sie noch ein Ticket lösen.